Keine schweren Waffen für die Ukraine-
Waffenstillstand, Verhandlungen und Alternativen.
Martin Singe
Keine schweren Waffen für die Ukraine – Waffenstillstand, Verhandlungen und Alternativen
Die Sorge vor einer Eskalation des Krieges in der Ukraine im Falle der Lieferung schwerer Waffen sollte nach den Worten der Vorsitzenden des Bundestagsverteidigungsausschusses nicht Richtschnur deutscher Politik sein. "Wir sollten uns nicht hinter Eskalationsszenarien verschanzen", sagte die FDP- Politikerin am 19.4. der Rheinischen Post. Die Ukraine brauche jetzt sofort schwere Waffen, wie Panzer, um sich verteidigen zu können. Strack-Zimmermann, Habeck, Baerbock, alle Ampelpolitiker*innen starren auf Waffen(lieferungen) und haben keinerlei Phantasie für irgendwelche anderen Lösungen.
Der Ruf nach schneller Lieferung schwerer Waffen für die Ukraine wird von Tag zu Tag lauter. Wer noch Einwände hat, steht im politischen und medialen Abseits. Wenn die Politiker*innen nicht von selbst nach schweren Waffen rufen, treiben sie die Moderator*innen der TV-Sender vor sich her – bis hin zum Eingreifen der NATO in den Krieg. Warum denn nicht sofort Panzer, warum nicht wenigstens eine ganz kleine Flugverbotszone, usw.? Schwere Waffen sollen angeblich Menschenleben retten und die Ausweitung des Krieges verhindern. Dass der Krieg durch weitere westliche Waffenlieferungen in Wirklichkeit verlängert wird und so immer mehr Menschen getötet werden, wird ausgeblendet. Auch die Esaklationsgefahr bis hin zum atomar geführten 3. Weltkrieg wird verdrängt. Russland kann die waffenliefernden Staaten als kriegsbeteiligt einstufen und so ggf. den Krieg in die NATO tragen, indem es Waffenkonvois z.B. in Polen oder Rumänien angreift. Moskau hat auch erklärt, dass es bereit sei, Atomwaffen einzusetzen, wenn es sich in einer existentiellen Bedrohungslage fühlt. Wollen wir mit Waffenlieferungen und extremen Boykottmaßnahmen dazu beitragen?
Russland darf nicht siegen, so das westliche Mantra. „Wir“ verteidigen in der Ukraine unsere demokratischen Werte. Wenn „wir“ Russland nicht in der Ukraine besiegen, wird Russland bald in Berlin stehen, so ein Kommentar von heute (21.4.22) aus Brüssel. Die Forderungen der Friedensbewegung, die ohnehin als irre oder als 5. Kolonne Moskaus/Putins (Lambsdorff) dargestellt wird, nach Waffenstillstand und Verhandlungen werden nicht ernst genommen. Die Friedensbeweung und die Ostermärsche wurden von Politik und Medien massiv diffamiert. Eine rationale Auseinandersetzung
findet nicht mehr statt. Inzwischen scheinen sich den Gesinnungsbellizisten die Verantworungspazifisten gegenüberzustehen.
Der Westen hat scheinbar jegliches Interesse an einer Kriegsbeendigung und Verhandlungslösung verloren. Oder wie erklärt sich sonst, dass es keinerlei diplomatische Initiativen in diese Richtung oder deutlichen politischen Druck auf die Kriegführenden zu einer Verhandlungslösung gibt? Wie schäbig wurde der Versuch des österreichischen Bundeskanzlers Nehammer kommentiert, der nach Kiew und Moskau aufgebrochen war. „Naiv in Moskau“ - so die Süddeutsche Zeitung.
Moskau soll nun (20.4.) ein neues Verhandlungsangebot gemacht haben. Es wäre dringlich, darauf einzugehen. Zwischenzeitlich hatte Selenskyj – etwa vor drei Wochen – in einer seiner Ansprachen ein sehr weitgehendes Angebot gemacht, dann aber wohl doch wieder zurückgezogen (auf wessen Druck?): neutrale Ukraine, Sicherheitsgarantien, Verbot von Nazigruppen, Suspension des Sprachengesetzes, Krim zu Russland, Autonomie für den Donbass. Hätte er dies vor Kriegsbeginn angeboten, hätte der Krieg vielleicht vermieden werden können. Immerhin macht sich jetzt (21.4.) endlich UN-Generalsekretär Guterres auf den Weg nach Kiew und Moskau, acht Wochen nach Kriegsbeginn. Warum war er nicht längst dort? Weil die UNO – wie die OSZE – von der NATO politisch marginalisiert wird?
Wer heute die Vorgeschichte des Krieges auch nur anspricht, wird schon als Kriegsbefürworter und Putinversteher (ist der Versuch, einen Menschen und sein Handeln zu verstehen, schändlich?) denunziert. Dabei hat der Krieg eine 30-jährige Vorgeschichte seit 1990/91. Die NATO-Osterweiterung wurde von Russland mehrfach scharf kritisiert, das Angebot an Georgien und die Ukraine schließlich im Jahr 2008 war geeignet, Russland weiter zu provozieren.
Die 1990 breit getragene Idee vom gemeinsamen Haus Europa ist schnell den globalstrategischen Interessen der USA geopfert worden, die ein auch wirtschaftliches Zusammengehen von (West)Europa mit Russland nie akzeptieren wollten. Sonst hätte man auch Russland einladen sollen, der NATO beizutreten. Die Kündigung des ABM-Vertrages und des INF-Vertrages durch die USA und dann die Stationierung von Raketenabwehrsystemen, die auch offensiv genutzt werden können, in Polen und Rumänien, haben die Eskalationsspirale angetrieben. Mit der Aktivierung des US-Artillerie-Kommandos in Wiesbaden 2021, das früher für die Pershing II zuständig war, kündigt sich die Stationierung neuer Mittelstreckenraketen in Europa an.
Dass schließlich die von Russland gemachten Deeskalationsvorschläge – Vertragsangebote an die NATO und die USA vom 17.12.2021 – in ihren Kernvorschlägen im Januar 2022 allesamt von USA und NATO zurückgewiesen wurden, brachte wohl das Fass zum überlaufen. Im Februar erklärte Selenskyj dann vor der Münchner Sicherheitskonferenz auch noch, dass die Bukarester Vereinbarungen von
1994 für ihn nicht mehr gelten, da die ukrainische Souveränität verletzt worden sei. Das hieß im Klartext für die russische Sichtweise, dass die Ukraine Atomwaffen anstreben könne.
All dies rechtfertigt selbstverständlich nicht den Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine. Russland hätte weitere alternative Optionen gehabt und hätte beharrlich auf Abrüstungsverhandlungen und Verhandlungen über Sicherheitsgarantien bestehen müssen. Denn der Krieg wird auch für Russland langfristig negative Folgen haben. Finnland und Schweden drängen bereits in die NATO. Dass es für Russland nach dem Krieg mehr Sicherheit als zuvor geben wird, ist extrem unwahrscheinlich.
Die Friedensbewegung sollte weiterhin Druck auf die Politik ausüben und eine Verhandlungslösung einfordern. Wichtig sind Solidarität mit den Ukrainer*innen, humanitäre Hilfe, Unterstützung von Flüchtlingen, Kriegsdienstverweigerern und Deserteuren. Connection e.V. koordiniert hier mit anderen Friedensgruppen zusammen hervorragend die Unterstützung für Deserteure aus den kriegsbeteiligten Staaten und hat eine Beratungshotline eingerichtet. Vgl. https://de.connection-ev.org/article-3533
Außerdem muss die Friedensbewegung entschieden dem 100-Milliarden Aufrüstungspaket von Scholz und Lindner entgegentreten. Darin enthalten sind auch die Anschaffung der F-35-Atombomber für die nukleare Teilhabe und die neuen für Büchel vorgesehenen B61-12 Atombomben sowie die Entwicklung neuer Panzer (MGCS) und Kampfflugzeuge (FCAS) für ein mit Eurodrohnen vernetztes völlig neues elektronisches Kampfsystem. Die nötige 2/3-Mehrheit im Bundestag für die angestrebte Grundgesetzänderung von Artikel 87 zur Durchsetzung des „Sondervermögens“ darf nicht zustandekommen.
Der Bund für Soziale Verteidigung hat mehrfach darauf hingewiesen, dass die Ukraine durchaus statt der militärischen Verteidigung auf soziale, zivile Verteidigung umstellen könnte. In einigen besetzten Städten geschieht dies auch spontan und teils erfolgreich. So konnte durch zivilen Protest ein verschleppter Bürgermeister wieder zurückkehren. In vielen Situationen haben sich Ukrainer*innen ohne Waffen den Panzern entgegengestellt. Wäre das Konzept vorbereitet gewesen, hätte Russland zwar eine Besetzung durchführen können, aber die Menschenleben wären gerettet gewesen. Und die Ziele der Besatzer werden im Konzept Sozialer Verteidigung durch zivilen Widerstand unterlaufen und sabotiert. Ziel der Sozialen Verteidigung, die auch hier bei uns erneut auf die Tagesordnung gehört, ist es, die gesellschaftlichen Strukturen zivil so zu verteidigen, dass das Land für einen potentiellen Besatzer „unverdaubar“ wird – und eine eingeübte Soziale Verteidigung würde auch eine entsprechende Abschreckungswirkung entfalten. Die schon alte These, dass moderne Industriegesellschaften militärisch strukturell unverteidigbar sind, erweist sich im Ukraine-Krieg konkret.
Wieviele Menschenleben will man in diesem Krieg um welcher Ziele willen noch opfern? Nicht nur die Tausenden von toten Zivilist*innen sind ja zu beklagen, sondern auch die Zehntausenden Soldat*innen. Die russischen Soldat*innen sind nicht freiwillig in den Krieg gezogen – und auch die ukrainischen Männer zwischen 18 und 60 Jahren werden zum Verteidigungskrieg gezwungen. Welch' Wahnsinn, dass umzingelten Hunderten von ukrainischen Soldaten in Mariupol verboten wird, zu kapitulieren und sich zu ergeben – zumal der Zwang zum Weiterkämpfen auch die noch verbliebenen Zivilist*innen voraussichtlich der Vernichtung preisgibt. Die „Schlacht um