Ulrike Guérot: Rede zur Friedensdemo 22.10.23 im Bonner Hofgarten

Liebe Friedensbewegte, Liebe Freunde, Es fällt mir nicht leicht, ein Grußwort für die heutige Demo zu sprechen. Zunächst meine Entschuldigung, dass ich nicht persönlich dabei sein kann. Aber noch bevor dieses Datum festgelegt wurde, hatte ich für den heutigen Tag eine Einladung nach Dresden, die ich nicht mehr absagen konnte.

Aber das ist nebensächlich. Nicht nebensächlich ist das Gefühl, der Eindruck, die Stimmung, in der ich gerade bin, als ich diese wenigen Zeilen zu Papier bringe. Gestern flirrten die Bilder der Israelischen Geiseln – Frauen und Kinder als menschliche Schilder – über die Fernsehschirme, ebenso wie die Bilder vom komplett verwüsteten Gaza-Streifen, dazu kam die Nachricht, dass es dort bald keinen Strom mehr geben wird, da Israel in Reaktion auf die abscheulichen Terroranschläge der Hamas den Gaza­Streifen abriegeln wird. Der Bundestag hat gestern – diese Aufzeichnung mache ich, reisebedingt, schon am 12. Oktober – eine Sondersitzung abgehalten, die Anschläge der Hamas auf das Schärfste verurteilt und Israel seine Solidarität ausgesprochen. Israel, ein von mir geliebtes Land, wieder im heißen Krieg. Die beiden Söhne meiner besten Freundin Sharon wieder in Uniform. Und unschuldige Palästinenser in den Fängen einer terroristischen Vereinigung, der Hamas, die ihren eigenen Leuten einen Bärendienst erweist.

Im eigenen Kopf schwirrt es und kein Ende. Der Krieg zwischen Israel und Palästina addiert sich zu den Schrecken der Jahre, wo alle doch nur noch sehnsüchtig darauf warten, dass die Welt irgendwie wieder „normal“ wird, nach dem „Krieg gegen ein Virus“ und dem russisch-ukrainischen Krieg. Stefan Zeig’s Welt von gestern kommt einem unmittelbar in den Kopf: wo ist es nur hin, jenes friedliche Europa, in dem man relativ sorglos leben konnte, eben weil es Europa war?

Als diese Friedensdemo - in Erinnerung an jene legendäre Demo auf der Bonner Hofgartenwiese vom Oktober 1983 – geplant wurde, sollte es noch um den russisch-ukrainischen Krieg gehen, der seit nunmehr fast zwei Jahren auf dem europäischen Kontinent wütet, aber eigentlich wurde seit dem Maidan 2014 jenseits von Fernsehkameras in der Ukraine geschossen und gestorben. Europa, die EU, ist formal nicht im Krieg, aber das kriegerische Geschehen findet mitten in Europa statt, inmitten jener politischen Formation, die aus den kriegerischen Schrecken und Verwüstungen des 20. Jahrhunderts hervorgegangen ist, und deren Leitspruch war „Nie wieder Krieg“.

„Ce que nous partageons en Europe, c’est que nous étions tous bourreaux et victimes“. Was wir in Europa teilen, ist, dass wir alle Schlächter und Opfer waren“, so formuliert es Laurent Gaudet in seinem preisgekrönten Epos „L’Europe: une Banquet des Peuples“, „Europa, ein Bankett der Völker“.

Wie oft hat man diesen Satz in den 70 Jahren europäischer Geschichte seit 1950 gehört, jenen Ausspruch, der sich heute als Euphemismus erweist: „Europa, das ist nie wieder Krieg“. Nie wieder Bomben, Schrecken, Flucht, Vertreibung, Hunger….

Einer meiner Großväter liegt in Riga begraben, der andere kam ohne Beine aus Russland zurück. Als „Kriegsenkel“ weiß ich, wie lange traumatische Kriegswunden in eine Familie hineinwirken können. Ich erinnere mich an die Vorführung des Filmes „Die Brücke“ in der Schule.

Ich habe auf der Mauer getanzt, als sie 1989 nach einer friedlichen Revolution aufging. DAS war der Erfolg der Friedensbewegung jener Jahre. Ab 1985 gab es intensive Abrüstungsverhandlungen und schließlich jene Glasnost, jenes „Tauwetter“, das schließlich zum Mauerfall führte. Ich war jung und das Versprechen lautete: Europa ganz und frei!

Nur etwas später entspannte sich der Nahost-Konflikt dank amerikanischer Shuttle-Diplomatie im Rahmen von Camp David II und schien einer Befriedung nahe. Durch das Osloer Abkommen von 1993 schien die seit langem diskutierte Zwei-Staaten-Lösung in greifbare Nähe zu rücken, und Jassir Arafat, der Vorsitzende der Al-Fatah und langjährige Präsident der palästinensischen Autonomiebehörde, bekam 1994 sogar den Friedensnobelpreis. Es ist alles nur rund dreißig Jahre her.

Jetzt, mit 59 Jahren, habe ich das beklemmende Gefühl, dass wir inmitten einer zivilisatorischen Regression stecken, einem Wiederholungszwang, einem Rückfall. Habe das Gefühl, dass alles wieder von vorne los geht, dass die einstigen Lösungen zerstoben sind. Habe das Gefühl, dass die Utopie, der Plan, die Ambition, die Arbeit an einem politischen Europa und einer europäischen Friedensordnung MIT Russland gerade geschreddert werden - ebenso wie die einst avisierte Befriedung des Nahost-Konfliktes durch eine Zweistaatenlösung. Tempi Passati!

Ich habe das Gefühl, dass wir die Geschichte vergessen haben, vergessen haben, woher wir kommen, vergessen haben, was wir wollten – und heute für unmöglich erklären. Dass wir die Worte und die Konzepte vergessen haben, mit denen wir einst geredet und geplant haben: Entspannungspolitik hießen die Zauberwörter, Wandel durch Annäherung, europäische Sicherheitsarchitektur oder ein europäisches Haus von Lissabon bis Wladiwostok. Wir wussten damals, dass Europa föderal organisiert sein muss, dass seine Regionen, Sprachen, Kulturen und Identitäten fließend ineinandergreifen und keine harten Grenzen ertragen. Wir wollten den Eisernen Vorgang und die Blockkonfrontation überwinden.

Warum haben wir es nicht geschafft? Das ist die Frage, die ich mir heute stelle. Warum haben WIR in Europa es nicht geschafft, diese friedliche Welt zu bauen? Warum haben WIR es nicht geschafft, das „Friedensprojekt Europa“ zu vollenden, warum haben WIR dem Auftrag, den die Geschichte an uns gestellt hat, nicht genügt? Mir reicht es nicht, als Antwort auf „den bösen Putin“ zu verweisen.

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Denn die Frage ist doch: Welches Zeichen, welche Entwicklung soll – wie damals 1983 – von dieser Demo ausgehen? Was streben wir heute an? Welche Skizze haben wir von einem friedlichen Europa im 21. Jahrhundert? Welche Konzepte, welche Pläne, welche Ambitionen, aus denen sich einzelne, konkrete politische Schritte ableiten könnten?

Um diese Fragen zu beantworten, müsste sich Europa einige Fragen stellen. Müsste Europa verstehen, dass wir nicht immer „die Guten“ waren noch sind.

Es ist uns nicht gelungen, aus Europa jene souveräne, emanzipierte politische Einheit zu machen, die mit der Welt in Dialog tritt, jene Softpower, die sich aus der amerikanischen Vormachtstellung löst, die Rule of Law, sozialen Frieden und Gerechtigkeit in die Welt bringt. Die den Dialog mit dem Globalen Süden auf andere als hegemoniale Beine stellt. Vor zwanzig Jahren, es sei kurz daran erinnert, war das der politische Moment: die Multitude traf sich auf dem Social Summit in Porto Allegre. Jeremy Rifkin schrieb sein Buch Why the European Dream will eclipse the American Dream und die Welt hat auf das souveräne, das politische, das andere Europa gewartet, das sich 2003 eine Verfassung geben wollte.

Die Welt hat auf Godot gewartet und wartet noch immer. Europa als Ort des Friedens findet nicht statt. Schon zwanzig Jahre ist Europa, die EU, bestenfalls Zaungast, schlimmstenfalls Begleiter sowohl der NATO­Osterweiterung, also de facto der Zementierung einer erneuten Spaltung des europäischen Kontinentes in Blöcke; aber auch der Agenda einer sogenannten „Democracy Promotion“, die den Nahen Osten letztlich in ein Pulverfass verwandelt hat, ohne Frieden, geschweige denn Demokratie zu stiften. Heute liefert Europa Waffen statt Diplomatie, es geht um Sanktionen, nicht mehr um Wandel durch Handel. Europa lässt es zu, dass eine neue, harte NATO-Grenze auf seinem Kontinent errichtet wird, dass einst neutrale Staaten wie Finnland oder Schweden die Neutralität verlassen.

Europa re-nationalisiert sich, es verrät SEINE Interessen, um den geostrategischen Interessen anderer Staaten zu genügen, wobei die Ukraine tragischerweise instrumentalisiert wird.

Ich habe selten ein zynischeres Video gesehen als das, in dem US-Senator Mitt Romney sich damit brüstet, dass die „USA nicht einmal ihre eigenen Männer in den Krieg schicken müssen, um ihre geostrategischen Ziele durchzusetzen.“ Und Europa huldigt dem Kriegstaumel, anstatt sich zu besinnen, lässt sich von den USA spalten und dominieren, anstatt an SEINE Geschichte und an SEINE Zukunft zu denken.

Diese europäische Zukunft kann nur Bestand haben, wenn Europa sich darauf besinnt, was es ist und was der Zweck seiner Geschichte ist: Frieden. Wenn Europa also alles tut, um jetzt einen sofortigen Waffenstillstand, dann Friedensverhandlungen zu fordern, wenn Europa eine schützende Hand über die blutende Ukraine legt und Pläne für eine dauerhafte, föderale Friedensordnung und eine europäische Sicherheitsarchitektur entwickelt. Wenn Europa also in der Geschichte den Baustein für seine Zukunft wiederfinden kann!

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Zum Abschluss sei mir eine persönliche Bemerkung gestattet: Zusammen mit Hauke Ritz habe ich in dem Buch „Endspiel Europa“ skizziert, wie eine friedliche Zukunft Europas im 20. Jahrhundert aussehen könnte und Europa konstruktiver Akteur bei der Gestaltung einer multipolaren Weltordnung werden kann. Um so erstaunter war ich, dass sich die Universität Bonn am 30. Oktober 2022, wenige Tage nach Erscheinen dieses Buches, öffentlich von mir distanziert hat, ein im Übrigen ungewöhnlicher Vorgang für eine Universität.

Laut Internetauftritt des CERC, dem Europa-Institut, dem ich an der Universität Bonn hätte vorstehen sollen, ist es „das Ziel dieses Institutes, jenseits der paradigmatischen Annahmen des 20. Jahrhunderts die Gesamtheit der europäischen Diskurse und Konstruktionen auf den Prüfstand zu stellen, um Europa und seine weltweite Vernetzung (…) theoretisch neu zu denken.“ Genau das haben wir im Endspiel-Buch versucht, es war ein Essay!

Vor diesem Hintergrund wünsche ich mir, dass ich als Professorin an die Universität Bonn zurückkehren kann, damit dieses Buch und seine europäische Skizze für das 21. Jahrhundert im Audimax und in vielen Seminaren diskutiert und Europa wieder zu einem Friedensprojekt werden kann!

Danke für Ihre Aufmerksamkeit!!!